Zwei Corona-Szenarien:
Szenario a)
Ich RentnerIn zwischen 67 und 90 lebe allein in meiner Wohnung, bin leider eine/r der ganz wenigen die weder Garten noch Balkon haben… Also, nix mit frischer Luft… Was? Wie bitte? So wenige sind sie nicht? Die ohne Garten und ohne Balkon? Sogar die Mehrheit? Ach ja!
Wie es auch sei, zurzeit darf ich keinen Besuch empfangen, mit meinen Verwandten skype ich (habe neulich gelernt, es bleibt aber ein fremdes Ding) und seit Wochen wage ich keinen einzigen Schritt vor die Haustür. Denn die Gefahr einer Infektion ist für mich sehr hoch und die Infektion lebensgefährlich. Gott sei Dank habe ich so nette Nachbarn und dann gibt es diese Solidaritätsketten: Sie kaufen für mich ein, klingeln bei mir und stellen die Einkäufe zwei Meter vor der Tür auf den Boden. Ja, so nett sind sie, jedes Mal fragen sie mich wie es mir geht und so, früher unter uns Nachbarn höchstens guten Morgen und guten Tag, viel mehr war da nicht. Wir plaudern die zwei Sätze, alles mit Abstand, alles abständig, und dann sind sie weg, die Guten. Sie müssen entweder zu den anderen Frühlingshaftfreiwilligen weiter ausliefern oder haben zu Hause die Kinder oder … tja, müssen Heimbüro machen.
Richtig, ihr denkt es, auch wenn ihr es nicht sagt: ich bin praktisch gefangen allein zu Haus aber… mein Gott, all diese Solidarität und diese Nachbarschaft! Früher fast nur meine Enkelkinder… Ach wie wir zusammen gespielt haben! Und auch zusammen gelesen. Märchen und sowas. Meine Enkelkinder halt! Ja gut, meine Freunde habe ich auch getroffen, früher, ziemlich regelmäßig sogar: Wir Rentner. Lauter alte Leute aber auch nicht so alt, wenn man richtig hinschaut. Was wir alles unternommen haben! Manchmal Theater oder ein Konzert… und unser Stammtisch, och ja! Bewegung, das fehlt mir, einen Spaziergang würde ich gerne machen, neee, muss nicht unbedingt die Wanderung sein, einfach nur einen Spaziergang. Wanderung… Wie wir gewandert sind, ich und meine Wandergruppe! Von wegen Alter gleich Stillstand! Bewegt haben wir uns. Solange man kann, sollte man sich möglichst bewegen. Das hält gesund, nicht wahr? Sagt mein Hausarzt auch immer.
Jetzt bin ich leider Gottes immer zu Hause, es ist die Zeit des Stillstandes. Das tun sie aber für mich, sie denken an mich, die anderen. Die haben es mir empfohlen und alle sagen das, im Fernsehen, in der Zeitung, meine Kinder, alle: Ich soll bitte zu Hause bleiben. Neee, gezwungen haben sie mich nicht, aber ich habe eine Riesenangst gekriegt, als sie mir erklärt haben, was ich riskiere. Risikoperson. Dochdoch, niemand zwingt mich, alles selber entschieden, nicht wie die in den Altenheimen, die nicht ein Mal ihre Mitbewohner sehen. Ich habe mich selbst zu diesem Hausknast verurteilt, zum einen weil ich Angst habe und zum anderen, weil ich auf die anderen nicht lasten will, die Jüngeren meine ich, die so sehr darunter leiden, meine ich, mit den Kindern und der Arbeit zu Hause… und ich hier, ganz allein, ganz still, ohne das Winzigste zu tun. Aber Höchstrisiko und tödlich wollen doch was bedeuten. Alle sagen es: Ihr Alte und Corona, Höchstrisiko und tödlich. Also, zu Hause bleiben und auf bessere Zeiten hoffen.
Und dann, angenommen das Schlimmste passiert und das Virus wie auch immer, trotz dieser ganzen Gefangenschaft mich erwischt, da habe ich gleich den freien Platz auf der Intensivstation. Flatten the curve haben sie es genannt: In Deutschland haben sie die Kurve ganz schön geflattet, anscheinend, und so den freien Platz für mich behalten. Es gibt sogar halbleere Intensivstationen in Deutschland, weil die Coronakranken nicht kommen und die anderen Kranken nicht behandelt werden. Um die Intensivbetten für Risikopersonen wie mich freizuhalten. Toll! All diese Maßnahmen, inklusive Heimgefängnis, dienen eben dazu, mir den Platz frei zu halten. Da bin ich sicher, schon beim ersten Anzeichen komme ich aus der Gefangenschaft raus: Sofort ins Krankenhaus, auf die Intensivstation und wenn der Arzt es entscheidet, Gott sei Dank gleich intubiert und von all den modernen Geräten überwacht. Jetzt und nicht später, jetzt müsste ich zwar zum Arzt. Wie? Nein, nein, nicht wegen Corona, sondern für die Kontrolle, wisst ihr, mein Herz und Bluthochdruck. Leider habe einen Termin erst in anderthalb Monaten bekommen, weil sie nur begrenzt Patienten aufnehmen können, wegen Abstand und Corona, wisst ihr. Aber was soll das! Meinen Platz auf der Intensivstation ist jedenfalls sicher und das ist das Wichtigste.
Was für eine Zeit haben wir! Alle reden von mir, von Menschen in meinem Alter. Und die streiten sich! Alles wegen mir. Früher hatte ich oft den Eindruck, sie haben mich vergessen, beiseitegeschoben, ich sei für viele nur Unnützes, als Rentner nur eine Last für die ganze Gesellschaft und dazu noch so teuer. Und jetzt wollen sie alle mich möglichst lange da behalten. Möglichst lange mit allen Mitteln. Die Chancen, 100 zu werden erhöhen sich für uns Ältere echt steil: upwarden die curve, könnte man es nennen. Danke Corona! Ich sage es jetzt, mein Danke, jetzt vorab, weil später mit all den Schläuchen und Kabeln und Piepsern wird es schwer sein: Danke!
Szenario b)
Ich RentnerIn zwischen 67 und 90 lebe allein in meiner Wohnung, habe keinen Garten und keinen Balkon, zurzeit darf ich keinen Besuch empfangen, mit meinen Verwandten skype ich. Das wäre Gefängnis, wenn ich nicht ab und zu ausgehen dürfte und meine Einkäufe selber erledigen könnte. Wie? Gefährlich? Neee, ich riskiere nicht, mich zu infizieren, jaaaa, ich weiß es, die jüngeren Leute sind eine Gefahr für mich. Gottseidank lebe ich in einer Stadt, in der man „Einkaufszeiten für uns Ältere reserviert hat: Zwischen 10 und 11“ haben wir die Geschäfte nur für uns, nur für die Älteren, denkt mal! Ich kaufe ein, sehe Leute (nur die in meinem Alter, aber die Mischzeit wird wieder kommen) und mit dem gebührenden Abstand können wir mal kurz hinter der Maske ein Schwätzchen halten. Wie es sich gehört, ganz abständig. Wenn das Geschäft weiter weg ist, ja, das wisst ihr schon, meine Apotheke oder die Bäckerei, in der ich immer das besondere Brot bekomme, früher bin ich mit der Straßenbahn dahin gefahren, hat mir Spaß gemacht; jetzt darf ich nicht, zu gefährlich. Aber in meiner Stadt hat man „separate Nahverkehrssysteme“ organisiert: Wir „können jetzt Taxis benutzen, damit wir nicht mit den Kindern und Jugendlichen, die bald wieder in die Schule gehen, in dem gleichen Bus fahren müssen“. Und wisst ihr, was das Schönste dabei ist? Ich sage dem Fahrer, wohin er muss und nicht er mir, wohin ich muss! In dieser meiner Stadt sind sie voll dran, extra Möglichkeiten für mich zu organisieren, damit ich mich bewegen kann, frische Luft schnappen kann und andere Menschen treffe. Lockerung des lock down ist das. Schön, dass sie auch für uns lockern und nicht in den Wohnungen oder in den Altenheimen weiter absondern und isolieren.
Manches ist dabei gar nicht schlecht, manches würde ich mir sogar auch für die Zeit nach dem Corona wünschen, dass es bleibt. Diese Taxis zum Beispiel…